3,6 Mio. Jahre in die Tiefe

Von 2010 – 2014 war ich für die Mitarbeiterzeitung des Deutschen GeoForschungsZentrums GFZ zuständig. Alle zwei Monate berichtete ich über die neuesten Entwicklungen am GFZ, führte Interviews mit Wissenschaftlern und verfasste ihre Feldeinsätze als Reportagen. Der Schreibstil richtete sich an die Ansprüche der Öffentlichkeit, der wissenschaftlichen und administrativen Mitarbeiter sowie der verpartnerten Zentren und Projektmitglieder. Den folgenden Artikel vom August 2013 hatte ich als Testbeitrag für eine geplante digitale Version der GFZeitung vorbereitet. Es gibt ihn auch als PDF-Version, denn die GFZeitung war ein Druckobjekt.

Einzigartige Dokumentation des Übergangs in das Eiszeitalter – Lückenlose Daten über mehr als eine Million Jahre

Vor 3,6 Millionen Jahren schlug 100 Kilometer nördlich des Polarkreises in Tschukotka, im äußersten Nordosten von Sibirien, ein Meteorit ein. Der Krater mit 18 Kilometern Durchmesser wurde zum 170 Meter tiefen See, genannt El’gygytgyn. Zur damaligen Zeit war die Nordhemisphäre noch komplett eisfrei und die Gegend um den See bewaldet. Erst ungefähr eine Million Jahre später, mit Beginn des Quartärs, begann die Arktis deutlich abzukühlen. Doch die Region ist eine der wenigen in der Arktis, die von der Vergletscherung nicht erreicht wurden. Daher nimmt der See kontinuierlich, Jahr für Jahr, Sedimente auf. Die mächtige Sedimentabfolge am Grund des Sees ist fast ungestört und lückenlos.

Frühling 2009: Die geschützte Bohrungsplattform. Foto: Olaf Juschus, Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde

Frühling 2009: Die geschützte Bohrungsplattform. Foto: Olaf Juschus, Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde

Wir wissen das, weil ein deutsch-russischamerikanisches Team mit GFZ-Wissenschaftler Dr. Norbert Nowaczyk im Rahmen einer lang geplanten, spektakulären Bohrkampagne im Herbst 2008 und im Winter/Frühjahr 2009 ein 300 Meter langes Sedimentarchiv bergen und
mit nach Deutschland bringen konnten. Heute, gut fünf Jahre später, liegen grundlegende Analysen des längsten bisher in der kontinentalen Arktis gewonnenen Sedimentkerns vor. Sie geben erstmals einen fast lückenlosen Einblick in die arktische Klimadynamik vor 3,6 bis 2,2 Millionen Jahren. „Die neuen Daten zeigen eindeutig, dass die Abkühlung der Nordhemisphäre nicht kontinuierlich, sondern in einzelnen, gut abgegrenzten Schritten verlaufen ist“, erklärt Prof. Dr. Martin Melles, der an der Universität zu Köln die Arbeit der deutschen Wissenschaftler koordiniert.

„In den Seeablagerungen des El’gygytgyn ist dieser Übergang zum ersten Mal lückenlos über einen Zeitraum von mehr als einer Million Jahre dokumentiert worden“. In dem analysierten Zeitraum erfolgte der Übergang vom warmen Pliozän in das Quartär – das sogenannte „Eiszeitalter”, in dem wir heute leben.

Um die Bohrungsplattform tragen zu können, musste die Eisdecke des El´gygytgyn-Sees künstlich verdickt werden. Foto: Anders Noren/University of Minnesota-Twin City.

Um die Bohrungsplattform tragen zu können, musste die Eisdecke des El´gygytgyn-Sees künstlich verdickt werden. Foto: Anders Noren/University of Minnesota-Twin City.

„Die Einzigartigkeit des Klimaarchivs wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass mit den Bohrkernen etwa 30 mal tiefer in die Erdgeschichte vorgestoßen wurde, als das mit den längsten Bohrkernen von der grönländischen Eiskappe der Fall ist,“ erläutert Melles.

Um das Alter jeder Sedimentlage präzise bestimmen zu können, zog die Wissenschaftlerin
Eeva Haltia-Hovi (GFZ, jetzt Uni Lund, Schweden) die Informationen aus magnetische Mineralen: Die mehrfachen Umpolungen des Erdmagnetfelds über die letzten Jahrmillionen finden sich in den Sedimenten wieder. Voraussetzung für die Datierung ist die millimeterweise Erfassung des Farbspektrums und der magnetischen Suszeptibilität der erbohrten Sedimente über die gesamte Länge des Kernprofils von 318 m.

Dafür entwickelte Norbert Nowaczyk einen eigenen Bohrkernscanner. Zudem entwarf er ein
Softwarepaket, mit dem die umfangreichen Datensätze aller Partner verarbeitet werden konnten. Die vielfältigen sedimentologischen, geochemischen, magneto- und biostratigraphische Datensätze konnten so mit den bereits bekannten Klimazyklen der letzten 3,6 Millionen Jahre hochaufgelöst in Beziehung gesetzt werden.

Insgesamt umfasst das so erstellte Altersmodell für die Seesedimente aus dem El‘gygytgyn über 600 Stützstellen. „In den Sedimenten ist die bewegte Klima- und Umweltgeschichte
dieser Gegend detailliert wie in einem Buch gespeichert“, erklärt Nowaczyk. „Mittels moderner Analysetechniken und neu entwickelter numerischer Verfahren können wir nun Seite für Seite dieser Geschichte lesen“.

Die ersten Schritte der Abkühlung begannen bereits vor circa 3,3 Millionen Jahren. Anhand
der Pollen in den Seesedimenten kann der Verlauf der Temperaturen und Niederschlagsmengen seit der Entstehung des Sees rekonstruiert werden. „Es ist schon erstaunlich, dass es selbst während der ersten Abkühlungsphase noch ähnlich warm war wie heute“, sagt Dr. Catalina Gebhardt vom Alfred-Wegener-Institut. „Und noch bis vor ca. 2,2 Millionen Jahren war es während der Warmzeiten deutlich wärmer als vor der Industrialisierung des 20. Jahrhunderts.“

Wie aus Bohrungen von Meeressedimenten bekannt ist, haben sich vor ungefähr 2,7 Millionen Jahren die Bedingungen im Nordpazifik deutlich verändert. „Bisher sind viele Wissenschaftler davon ausgegangen, dass sich damit die Vergletscherung der Arktis deutlich intensiviert hat“, erklärt Melles.

„Am El’gygytgyn-See beobachten wir zu dieser Zeit einen deutlichen Rückgang in der Niederschlagsmenge, während die Temperaturen dagegen nur schrittweise absinken. Die Eiszeit/Warmzeit-Zyklen, die wir für die jüngste Vergangenheit kennen, haben sich sogar erst vor etwa 1,8 Millionen Jahren ausgebildet“.

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